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arcAKTUELL 3.2015 - Über und unter der Erde - Umgang mit Ressourcen

Geschichtswissenschaft sucht nach den Reso- nanzen und Reflexionen von Vergangenem. Ihre Perspektiven reichen von einer Erfahrungs- und Kulturgeschichte bis zu datenbasierten Modellierungen im Sinne einer historischen So- zial- oder etwa Wirtschaftswissenschaft. Viel- fach erweisen sich dazwischenliegende Kom- binationen strukturanalytischer Ansätze und qualitativer Perspektiven als weiterführend für Rekonstruktion und Interpretation. Die Auf- gabe der Historiker besteht darin, sich durch die Interpretation von Quellen dem Geschehen anzunähern und die Narrative zu formulieren, die in ihrer Summe Geschichte ausmachen. Eine Verbindung qualitativer und quantitativer Befunde kann bei Massendaten mit Lebens- laufbezug ansetzen, in denen sich komplexe soziale Prozesse abzeichnen. Die Analyse sol- cher Daten mit ihrem Bezug zu Raum und Zeit als Grundlage für das Erschließen tiefer liegen- der Dimensionen ist für Historikerinnen und Historiker ein altbekanntes Problem. Eine be- grenzte Zahl von Fällen lässt sich zwar mit kon- ventionellen Herangehensweisen überblicken und verstehen, große Datenmengen erweisen sich indes immer wieder als schwer handhab- bar. Die soziale Dimension des Massenster- bens in Schützengräben des Ersten Weltkriegs und seine Rückwirkungen auf die Herkunfts- kontexte der Soldaten lassen sich zum Bei- spiel als Prozess auf einer Makroebene bisher nur schwer fassen und visualisieren. Gleichzei- tig wird die deutsche Deportations- und Ver- nichtungspraxis des Holocaust quantitativ bis- her vor allem aus Täterakten, qualitativ aber auf der Grundlage individueller Erfahrungen und Zeugnisse rekonstruiert, während ein Bild des Prozesses, das aus Lebenslaufdaten der Op- fer erarbeitet werden könnte, noch fehlt. Für beide historische Beispiele gilt: Einzelschick- sale von Menschen sind vielfach bekannt und erforscht. Die Strukturen der Prozesse selbst, die sich auf das Leben und Sterben der Opfer beziehen, fehlen zumeist noch. Sie sind jedoch nicht weniger wichtig. Den Versuch, biografische Ereignisse für große Kollektive über Raum und Zeit zu visualisie- ren, unternehmen Wissenschaftler am Histo- rischen Seminar bzw. am Institut für Migrati- onsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück mithilfe von ArcGIS. Hier laufen seit einiger Zeit Projekte zur Ana- lyse von historischen Massendaten, in denen sich Life Events, Mobilität bzw. Migration oder be- stimmte Eigenschaften der beobachteten Ak- teure spiegeln, sodass sich differenzierte Aus- sagen über den Verlauf historischer Prozesse treffen und zur Interpretation anderer Quellen verwenden lassen. Im Kontext einer kulturhistorisch erweiterten Gesellschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs geben erste Ergebnisse GIS-gestützter Analyse wichtige neue Hinweise, die etwa Narrativ und Forschungsstand zu den sogenannten Kriegs- freiwilligen infrage stellen oder zu einer kriti- schen Diskussion des Begriffs Massensterben anregen. Ganz grundlegende Befunde liefert zudem die geo- und zeitcodierte Übertragung des Sterbegeschehens von Soldaten an der Front auf ihren Heimatkontext (» Abbildung 1). Weitere GIS-gestützte Arbeiten greifen derzeit die Migration bzw. Mobilität von Künstlerinnen und Künstlern auf, die in den 1940er Jahren zu Opfern des Holocaust wurden. Eine Visualisie- rung ihrer wechselnden Bewegungsmuster in unterschiedlichen Abschnitten ihrer Biografie – vor, während und nach der Schoah (» Abbildung2)– war Teil der Ausstellung „Der Tod hat nicht das letzte Wort – Niemand zeugt für den Zeu- gen“, mit der der Deutsche Bundestag im Ja- nuar 2015 des 70. Jahrestags der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Ausch- witz gedachte. Weiterführend erschließen neue Vorhaben auch das didaktische Potenzial der Arbeit mit ArcGIS im schulischen Kontext. Das Thema Mi- gration ist seit Längerem Bestandteil der Lehr- pläne des Geschichtsunterrichts in Niedersach- sen. Hier setzt ein Projekt des IMIS an, das die Wanderungsmuster von Familien über vier Ge- nerationen – also rund 100 Jahre – hinweg re- konstruiert und visualisiert (» Abbildung 3). Die Ergebnisse führen Schülerinnen und Schülern eindrucksvoll die Migration in der eigenen Fa- miliengeschichte vor Augen und erlauben es, die Erfahrung des ständigen Wechsels zwi- schen Verweilen und Bewegen in den Kontext größerer (migrations-)historischer Prozesse ein- zuordnen. Dies regt dazu an, die Konstruktion des Selbst und von Fremdheit kritisch zu hin- terfragen, und fördert einen neuen Zugang zu Diversität. Die Potenziale, die der Einsatz von GIS für die historische Forschung und insbesondere die historische Migrationsforschung über Anwen- dungen klassischer Kartografie hinaus bietet, scheinen beträchtlich und bisher kaum ausge- schöpft. Die Osnabrücker Historiker haben dies erkannt, und erste Erträge ihrer Arbeit bestäti- gen: Geschichtsforschung mit GIS funktioniert und öffnet neue Perspektiven. Universität Osnabrück Historisches Seminar Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien PD Dr. Christoph Rass Sebastian Bondzio, M.A. www.imis.uni-osnabrueck.de ++ Geschichte und GIS: zur massendatenbasierten Visualisierung historischer Prozesse 44 bi l d u ng u nd forsch u ng Abbildung 1: Die Osnabrücker Gefallenen des Ersten Weltkriegs in ihrem Heimatkontext – differenziert nach sozialer Schicht Abbildung 3: Die Mobilitätsgeschichte von Familien einer Schulklasse Abbildung 2: Die freiwillige und erzwungene Mobilität von Künstlerinnen und Künstlern – vor, während und nach der Schoah

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